SoS – 09 Sprich nicht drüber

Warum haben die die schönen Betten von Opa und Lella weggeschmissen und diese blöden gekauft? Und warum musste Opa aus seinem Haus, der hat doch das Stadthaus und das Haus am Bahnhof gebaut? Ich will nicht, dass die jetzt in Lellas Schlafzimmer schlafen. Na wenigstens ist da ein großer Spiegel.

Ich stellte mir vor, wo mein Kinderbett aus schönem Drahtgeflecht mit Rosen aus gehämmertem Eisen stand. Opa hatte es zu Weihnachten neu gestrichen, türkis, und die Rosen in Gold. Wie klein war ich damals und heute wächst mir eine Brust. Heidi hat mir ihren BH zum Anprobieren geliehen, aber der passt nicht. Heidi ist fett, aber ich brauch’ vorne mehr Platz und viel weniger wo man zumacht.

Sie stand in der Türe, ich habe kein Auto kommen hören. Was macht die zu hause? Jedesmal, wenn ich sie oder ihn überraschend sehe, habe ich Angst und gerate in Panik. Die Alte grinste und sagte: “So, meine Tochter braucht also einen BH?” – Bitte sage niemandem etwas! Sie hörte garnicht hin und sagte, mach Dich fertig für’s Geschäft.

Margit, unsere Sekretärin, hatte eine Überraschung für mich. Sie schenkte mir ihren wunderschönen gelben Spitzenpettikot. Das war das schönste Geschenk außer meinem roten Ball mit weißen Tupfen, das ich je bekommen hatte. Die Freude stand mir im Gesicht und unsere Kunden sagten: “Die Traudl kann ja lächeln.”

Gerne hätte ich es allen Menschen gesagt, aber unsere Kunden waren ja Männer, und mit denen spricht man über solche Sachen nicht, ich würde mich zu sehr schämen. Als Herr Hering, der Fahrschullehrer zum Tanken kam, sagte er zum ersten Mal nicht “Du armes Mädchen”, weil ich lächelte. Schnell tankte ich voll und wusch seine Scheiben und ging, um es in seine Tankkarte zu schreiben. Durch die Glasscheibe sah ich, wie meine Mutter über mich redete. Als ich durch die Tür kam, sagte sie: “Sag’ dem Herrn Hering, was Du schon brauchst.”

Ich wollte in diesem Moment sterben vor Scham. Als ich nichts sagte, erzählte sie, wie sie mich vor dem Spiegel beobachtet hatte und dass ich schon einen BH brauchte. Gott sei dank, er hat nichts dazu gesagt und ging mit der Entschuldigung, dass er einen Schüler abholen müsste.

Das gleiche wiederholte sich mit Herrn Hermes. Als das Geschäft am späten Nachmittag etwas nachliess, setzte ich mich hinter die Werkstatthalle und fing an leise zu fluchen. Fluchen war besser als weinen, das sieht man nicht an den Augen. Sie ruft mich und tobte, weil sie mich nicht gleich finden konnte. Sie wollte mich vor Ladenschluss zum Steingass fahren und einen BH kaufen. Ich bettelte, doch keinen zu kaufen, weil ich mich so schämte. Unsinn, sagte sie, wir kaufen einen, der zum gelben Pettikot passt.

Ich war etwas überrascht, aber dann doch froh, weil ich dann Heidi meinen BH zeigen konnte. Hätte ich geahnt, warum sie mir den BH kaufen wollte, wäre ich vor Scham gleich gestorben. Nicht nur, dass sie allen, die sie im Kaufhaus kannte, erzählte, was wir heute einkaufen, ich musste ihn auch noch vorführen.

Sonntag Morgen, mein Vater lag noch im Bett. Sie wollte, dass ich meinen Pettikot und den BH anziehe, darüber Rock und Bluse. Dann musste ich ins Schlafzimmer und es meinem Vater vorführen, tanzend auf dem Holm am Fussende des Bettes. Mein Sträuben hatte keine Wirkung. Sie meinte, Du willst doch, dass Dein Vater bei guter Laune ist, also los. Ich tanzte auf dem schmalen Bett auf und ab, als sie sagte, zieh’ Deine Bluse dabei aus und zeige, was Du bekommen hast.

Immer, wenn ich in einer ausweglosen Situation war, tat ich so, als wäre ich nicht ich und gehorchte. Sie redeten etwas, aber ich hörte sie nicht. Dann sagte sie, jetzt zeige auch noch den Pettikot. Wieder schaltete ich ab und gehorchte. Meine Mutter ging aus dem Bett, und ich sprang vom Bettrand. Sie fasste meinen Arm und führte mich auf die Seite des Bettes, wo mein Vater lag und sagte: “Sie wird ein schönes Mädchen.”

Dann stieg er aus dem Bett, kam näher und sagte, zieh’ den BH aus, ich will sehn wie groß die sind. Wieder schaltete ich ab und tat wie mir befohlen. Als er aber meine Brüste anfasste, wehrte ich mich, und der Hass wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Da hörte ich die alte fette Sau sagend: “Sei nicht so genant, es ist doch Dein Vater.”

Zuerst begrapschte er mich, und dann beglotzte er mich. Dann sagte er: “Sie wird nicht perfekt. Die Brustwarzen sitzen zu tief, und ihre Beine sind zu kurz.” Das Grinsen im Gesicht meiner Mutter verschwand, und sie schickte mich aus dem Schlafzimmer. Halb nackt wie ich war, rannte ich aus der Türe, und da stand Lutz. Jetzt hat der mich auch noch so gesehen. Aus Angst und Panik wurde mir schlecht, und ich übergab mich den restlichen Tag, was natürlich keine Entschuldigung war nicht Tankstellendienst zu tun.

Ich fragte mich manchmal, wie und warum ich diese Demütigungen ertrug. Fing ich auch schon an, Unrecht für Recht zu halten? Dabei stellte ich fest, dass immer, wenn ich eine auswegslose Situation durchlebte, ich es wie ein Zuschauer im Theater erlebte. Das war nicht ich, die das alles ertrug, es war mein zweites “Ich”. Mein zweites Ich war mein seelischer Schutz. Es litt und ertrug für mich schamvolle Situationen, Schläge, sogar die sexuellen Belästigungen. Ich konnte kontrolliert mein zweites Ich in Konfliktsituationen hervorrufen, was ich abschalten nannte. Dann stellte ich mir teilweise vor, dass, wenn ich mich schützen wollte, ich mein zweites Ich pflegen und zu meinem Schutz öfter hervorrufen musste.