SoS – 13 Die unbezahlte Rechnung

Es war noch eine Woche bis Weihnachten, und es war kalt im Haus, und wir hatten außer Haferflocken mit Kakao und Milch seit langem nichts mehr gegessen. Im Sommer wurde die Tankstelle geschlossen. Die einen sagten, Deine Mutter hat Bankrott gemacht, weil Dein Vater alles Geld für seine Forschungs­arbeiten verbraucht hat. Manche sagten auch, Dein Vater kümmert sich nur um sein Orchester und seinen Chor und wieder andere sagten, Deine Mutter hat das ganze Geld Detektiven bezahlt um Deinem Vater nachzuspüren.

Ich weiß es nicht, und ich wollte es auch nicht wissen. Dass meinem Vater die Musik und seine wissenschaftlichen Arbeiten wichtig waren, wussten ja alle, er hat bis heute in seinem Leben noch keinen Pfennig Geld verdient. Alles was wir hatten kam von meiner Mutter oder meinen Großeltern. Je älter ich wurde, desto weniger verstand ich meine Mutter. Heute bin ich fast vierzehn (? – 40? -OD) Jahre und weiss, dass sie alles, aber auch alles für meinen Vater tun würde, damit er sie nicht verlässt.

Sie war ihm willenlos verfallen und ertrug jede Art von Schmerz und Beleidigungen, die er ihr zufügte. Einmal zeigte er uns ein Bild von einer Frau in einer Schwesternuniform. Sie war schön im Gesicht und hatte eine makellose Figur. Er fragte uns, ob wir wissen, wer die Frau im Bild sei. Er erklärte es ganz einfach, das war die Frau, die ich nach dem Krieg kennenlernte, und heute ist sie eine voll gefressene schwabbelige fette Sau – Eure Mutter. Verlegen und beschämt schauten wir unsere Mutter an, sie sagte kein Wort, und ich fühlte zum ersten Mal Bedauern für sie.

Es machte mich auch ärgerlich, dass sie sich nicht wehrte, im Gegenteil, sie sagte, Euer Vater meint das nicht so. Am selben Abend, es war schon dunkel, zog meine Mutter Nigg und mich ins Schlafzimmer. Sie war sehr kleinlaut, als sie uns fragte, ob wir gerne ein gutes Essen haben möchten und ein schönes Weihnachten mit Geschenken und einer Weihnachtsgans auf dem Tisch.

Nigg und ich schauten uns an, und der Hunger in unserem Magen sagte ja. Wir wussten sehr wohl, dass wir etwas dafür tun müssten, was nicht sehr angenehm war. Sie erzählte, dass, als sie durch die Tankstellenunterlagen ging, sie einige Kundenrechnungen fand, die noch nicht bezahlt waren. Irgendetwas in mir warnte mich, aber Hunger und Weihnachten waren sehr realistisch. Sie sagte: Alles was Ihr tun müsst ist nach Mohnheim zu dieser Adresse zu fahren und zu kassieren. Lasst Euch nicht abwimmeln mit irgendwelchen Ausreden, denn die haben immer Geld im Haus. Ihr müsst sehr stark sein, denn das Heizöl reicht auch nur noch für zwei Tage. Ich fasste mir ein Herz und sagte, gib uns die Rechnungen mit, damit die Leute wissen, dass wir Deine Kinder sind. Sie gab sie uns, und die Rechnung zeigte tatsächlich ein Minus von

etwas über dreitausend Mark. Ich wollte nur sichergehen, dass alles seine Ordnung hatte und fragte, warum gehst Du nicht hin oder Er, und einer von Euch beiden kassiert? Sie knallte mir eine Ohrfeige und sagte, willst Du den Erwachsenen vorschreiben, was sie tun sollen? Gut, wenn Ihr nicht gehen wollt, habt Ihr und Eure armen Brüder nichts zu essen und Weihnachten fällt auch aus.

Nigg war dreizehn Jahre und der Fahrer. Wir nahmen den rot-weissen VW-Bus. Es sind ja nur vierzehn Kilometer, trösteten wir uns, aber es war Nacht, und die Strasse war stellenweise spiegelglatt. Auf halbem Weg fing es auch noch zu schneien an. Immer wenn ein Auto entgegenkam oder wir durch einen beleuchteten Ort fuhren, schob ich meine Beine unter Niggs Hintern, damit er größer aussah. Endlich, wir waren da, nach eineinhalb Stunden. Auf der Fahrt redeten wir nicht viel, aber jetzt mussten wir die Adresse finden. Nigg glaubte schon einmal dagewesen zu sein, aber da war es ja Tag. Wir suchten eine Stunde lang als wir uns entschlossen, in einer Gaststätte nach der Adresse zu fragen. Ich ging also zu dem Wirt und fragte. Das erste, was er sagte war, kleine Mädchen gehören um diese Zeit nicht mehr auf die Strasse, trotzdem gab er mir die Adresse, und wir fanden es auch gleich.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Uhr es war, aber die Leute waren schon im Bett als wir klingelten. Es war mir so peinlich, als der Mann im Schlafanzug die Türe öffnete, und wir wollten schon umkehren. Er fragte uns was wir wollten, da zeigte ich ihm die Rechnung und versuchte, meine Stimme sehr erwachsen und selbstsicher klingen zu lassen. Er bat uns herein, und wir schnauften auf vor Erleichterung. Für uns war klar, wir bekommen das Geld, Essen, Heizöl, und Weihnachten war gerettet.

Da sagte er, ich muss meine Frau wecken, die kümmert sich um die Geldangelegenheiten. Wir hörten laute Stimmen, verstanden aber nicht was gesprochen wurde, wir aber wussten in diesem Moment, dass etwas nicht stimmte. Die Frau war sehr wütend, als sie ins Zimmer kam. Sie schlug mit der Hand auf den Tisch und schrie uns an. Was will denn Eure Mutter noch alles? Hier ist die Quittung, dass ich diese dreitausend Mark schon letzten Monat bezahlt habe und außerdem sagte ich letzte Woche zu Eurer Mutter, sie soll aufhören, mich um Geld anzubetteln.

Wir wollten vor Scham im Erdboden versinken. Nigg fasste sich schnell und sagte, wenn wir kein Geld heimbringen, gibt’s wieder nichts zu essen, und das Heizöl ist auch schon fast alle. Die Stimme der Frau änderte sich, und sie sagte, setzt Euch an den Tisch, wann habt Ihr zum letzten Mal etwas gegessen? Ich fasste Nigg bei der Hand und sagte, wir müssen gehen, aber der Mann sagte, setzt Euch und gab uns ein Glas frische Kuhmilch, sie hatten ja einen Bauernhof. Die Frau brachte uns Brot und eine hausgemachte Leberwurst und sagte, esst erst einmal. Nigg war nicht so genant, er langte gleich zu; ich verstand es, es war der Hunger. Mein Stolz und die Scham, die ich empfand, schnürten mir den Hals zu. Da wurde mir auch klar, dass meine Mutter zu jeder Lüge bereit war. Nigg zischte durch die Zähne, sei nicht so blöd und iss, die Leute meinen es gut. Als wir fertig waren, bedankte ich mich und entschuldigte meine Mutter, dass dies vielleicht ein Versehen war. Die Frau packte uns auch noch zu essen ein und drückte mir einen Geldschein in die Hand. Bitte nehmen Sie das Geld zurück, es ist nicht recht, auch noch Geld zu nehmen. Nimm’s, es ist ein Weihnachtsgeschenk.

In dieser Stunde wurde ich erwachsen und wusste, was das Wort Schande heißt. Der Weg nach Hause war schwerer als das Kommen. Es war aber nicht die Schuld des Schneetreibens. Was sollten wir sagen? Die Alte glaubt uns doch sowieso nicht. Sie wird sagen, Ihr wart gar nicht da und habt Euch nur solange herumgetrieben oder irgendsoetwas wird sie sagen. Wir beide wussten, was auch immer wir sagen würden, sie würde uns ja sowieso nicht glauben. Wir haben auf jeden Fall einen Beweis. Dabei stellten wir fest, was auch immer wir sagen, die Alten uns nie glauben und wir immer einen Beweis brauchen. Ich konnte mich nicht länger damit beschäftigen, da mein Magen rebellierte. Kein Wunder, seit Tagen nichts außer Haferflocken mit Kakao und Milch und heute die fette frische Milch und die schwere fette Leberwurst. Ich musste brechen und hatte zugleich Durchfall. Nigg hielt an, und ich schaffte es nicht weiter als bis zum Straßenrand als es losging, wieder im Bus merkte ich, dass ich durchnässt war und es mich fror. Wir sind ja bald zu Hause. Wir schafften es ohne Unfall oder irgendwelche Zwischenfälle. Ich gab der Alten den Geldschein und das Essen und sagte, ich muss wieder brechen. Sie sagte nur, ist das alles? Euch kann man zu nichts gebrauchen. Am nächsten Tag kaufte sie meinem Vater Fleisch, Zigarren und gute Butter. Wir bekamen eine Nudelsuppe ohne Fleisch und ein Margarinebrot.

Weihnachten war wie alle Jahre – keine Geschenke und dieses Jahre nicht einmal, wie sonst, wenigstens einen Pullover.

Egal ob wir Geld hatten oder arm waren, mein Vater bekam das Beste, wir die Überbleibsel. Mein Verstand und mein Gefühl rebellierten, denn wir wussten, dass in anderen Familien die Kinder besser versorgt wurden und vom gleichen Topf aßen wie die Eltern. Und deshalb wuchs mein Hass täglich.