SoS – 04 Die neue Haushälterin und der neue Bruder

Seit Tagen ist eine Aufregung im Haus. Die Alten haben ständig etwas zu flüstern, und der Alte ist Samstag weggefahren. Wir wurden dann immer nach Schlossberg gebracht, zur Oma und Tante Erna. Das war immer eine Abwechslung. Die Oma war seine Mutter und genauso böse wie er. Sie tyrannisierte nicht nur ihre eigene Familie und Verwandtschaft, sondern, auch die Nachbarschaft. Sie hat immer über alle geredet, sie wusste über jeden Bescheid und hatte sich sehr wichtig gemacht.

Wenn die Nachbars­kinder zum Einkaufen am Haus vorbei kamen, fragte sie, was müsst ihr denn holen? Dann sagte sie, wo haben die das Geld schon wieder her? Manchmal rief sie aus dem Fenster, sagt Eurer Mutter, die soll Euch nicht so schmutzig herumlaufen lassen.

Trotzdem war es besser als zu Hause. da waren meine Cousine Sylvia, Serena, mein Cousin Remigius, den alle nur Miggele nannten und die kleine Tanja. Am Sonntag mussten wir alle nach Flochberg runter zur Kirche; die waren katholisch, und da musste man soviel knien. Aber danach gab’s immer ein gutes Essen, und wir durften mit Onkel Dittl zum Flugplatz.

Jeder durfte einmal mitfliegen, nur Hans wollte nicht, der hatte vor allem Angst und machte dann immer in die Hose. Miggele ist mit seinem Vater auch unter der Woche geflogen. Onkel Dittl hatte nur noch den linken Arm, er hatte den anderen im Krieg beim Absturz über England verloren, aber fliegen konnte er trotzdem. Onkel Dittl war gar nicht wie der Alte, obwohl sie Brüder waren. Er war immer guter Laune und hat seine Kinder nie geschlagen, höchstenfalls mal geschimpft. Manchmal kam auch der Onkel Joseph, das war der Graf von Bollstadt. Wenn der kam, gab es immer einen Menschenauflauf. Er hatte immer etwas Besonderes dabei in seinem großen Mercedes. Die Wochenenden waren immer schnell vorbei und viel zu selten.

Als uns meine Mutter abholte, versprach sie uns eine Überraschung, die zu Hause wartete. Nigg meinte, das wird schon nichts Rechtes sein, Hans und ich waren ruhig und warteten. Sie sagte, es wird sich viel verändern, vielleicht schlägt Euch Euer Vater jetzt nicht mehr so viel. Da war etwas in ihrer Stimme, das mir fremd war, das hat aber nichts mit uns und den Schlägen zu tun, die wir wegen jeder Kleinigkeit bekamen.

Als wir zu Hause waren, waren wir schon ganz konfus. Der junge Mann wurde uns als unser Bruder Lutz vorgestellt und die alte Frau Jauernik als seine Oma. Wenn das unser Bruder ist, wieso hat der eine andere Oma? Mir wurde gesagt, dass ich jetzt unten in Lellas Küche, die ausgeräumt wurde, schlafe, weil die Frau Jauernik mein Zimmer braucht. Frau Jauernik wird von heute an den Haushalt führen, und Ihr müsst ihr gehorchen. Ich konnte sie nicht leiden, weil sie so kleine böse Augen hatte und nicht einmal ‘Grüss Gott’ zu uns sagte. Ich hatte recht, sie fing auch gleich an mich herumzukommandieren.

Der erste Morgen fing schon mit Kommandos an. Ich musste noch vor dem Frühstück die Holztreppe putzen und nach dem Frühstück wachsen. Das war von nun an meine Arbeit: Vor der Schule einmal in der Woche wachsen und jeden Tag wischen und polieren. Zum Frühstück gab es Haferschleim ohne Zucker und ein Butterbrut als Schulbrot, nicht einmal Marmelade drauf. Als wir von der Schute nach Hause kamen, hatte sie schon einen Berg Wäsche gewaschen und kommandierte mich zum Bügeln ab. Eines war garnicht so schlecht, stellte ich fest, ich musste weniger im Haus arbeiten.

Sie erzählte uns, dass dort, wo sie vor dem Krieg gelebt hatte, alles viel schöner war, sie aber alles verloren hätte. Sie hatten ein Gut mit vielen Pferden, ein großes Stück Land und viele Äcker. Hinterm Haus war ein Garten mit verschiedenen Gemüsen und Tomaten. Da sei unser Bruder Lutz geboren und bis l955 auf gewachsen, aber dann hatten sie rübergemacht. Ich verstand am Anfang ihren Dialekt fast überhaupt nicht, und sie verwendete für bestimmte Dinge ganz andere Worte.

Ja, es wurde vieles anders, aber nicht besser. Ich musste zwar weniger im Haus arbeiten, dafür mehr in der Tankstelle. Die Hausaufgaben für die Schule wurden irgendwann oder garnicht gemacht. Die Alte hat dann manchmal in der Schule angerufen und gesagt, dass wir keine Zeit für solche Dinge hatten. Das war ja ganz einfach für sie, sie kannte die meisten Lehrer, die sind ja fast alle zusammen in die Schule gegangen. Trotzdem habe ich bei den Proben (Klassenarbeiten) durchschnittlich eine zwei geschrieben. Sollte ich dann eine drei mit nach Hause gebracht haben, hat der Alte wieder gesagt, wir seien so dumm geboren.

Sie, die Alte, meinte, wenn die Lehrer glauben, wir könnten besser sein, dann sollten wir in der Schule mehr lernen und zu Hause arbeiten. In der vierten Klasse waren meine Noten so gut, dass der Wastel (Oberlehrer Eber) meiner Mutter einen Brief schrieb, in dem er mich für die Oberschule vorschlug. Ihr ganzer Kommentar dazu war, Du wirst im Geschäft gebraucht. Das war richtig.

Wenn meine Schulfreundinnen zum Baden gingen oder mit der Schule auf einen Ausflug, war ich in der Tankstelle. Am Wochenende hatten Nigg und ich immer Dienst. Ich glaube, dass ich zweimal in dem neuen Schwimmbad in Nördlingen, wo unsere Tankstelle war, gewesen bin, und dann hatte ich es auch nur der Margitt, unserer Sekretärin, zu verdanken. Es war sehr selten; dass wir vor l0 Uhr nach Hause fuhren. Manchmal schickte sie uns Kinder um 8 Uhr mit jemand, der in die Richtung fuhr, mit. Wir mussten auch immer auf der Strasse; die von Harburg nach Nördlingen ging, per Anhalter ins Geschäft fahren, wenn uns niemand abholen konnte. Die Alte sagte immer, das könnt Ihr ruhig machen. Euch kennt ja jeder. Als ich ihr einmal erzählte, dass ich mit einem Fremden mitgefahren sei, der mir versprochen hatte, Eis und Schokolade zu kaufen, wenn ich sehr nett zu ihm wäre, ich es aber nicht haben wollte und er mich aus dem Auto geworfen hätte, sagte sie, da warst Du halt recht frech zu dem Mann.

Einmal war es sehr spät und Lutz brachte mich nach Hause. Ich war sehr müde und schlief schon im Auto ein. Ein Schmerz weckte mich auf, und ich war in meinem Bett und Lutz über mir, und er hielt mir den Mund zu. Danach nahm er die Hand von meinem Mund und flüsterte, Du darfst niemandem etwas sagen, und ging aus meinem Bett. Ich wusste gar nicht, was und wem ich etwas sagen sollte. Es wollte sowieso niemand etwas wissen. Für das, was ich in diesem Moment erlebt habe, hatte ich sowieso keine Worte, und was soll ich dann sagen? Dass ich von da an Angst hatte vor Lutz, weil er mir weh getan hatte? Das glaubt mir sowieso keiner, genau wie die Geschichte mit dem Mann, zu dem ich nicht nett sein wollte.

Am nächsten Morgen sagte er noch zu mir, wenn Du schwanger bist und ein Kind bekommst, sagst Du, Du hättest Dich mit meinen Taschentuch ausgewischt. Er drohte noch einmal und ging dann ganz normal in die Arbeit. Die ganzen Tage versuchte ich, aus all dem einen Sinn zu zu machen und meine Bauchschmerzen zu verheimlichen. Ich fragte mich immer, was er damit meinte, ein Kind bekommen und schwanger. Kinder bekommen nur Eltern oder der Storch bringt sie, aber ich bin doch erst 10 Jahre.