SoS – 10 Die Bootsfahrt

Es war der 27. März und mein Geburtstag. Sehr früh hörte ich den Alten mit meiner Mutter streiten. Das war ja nichts neues, aber dass der Alte, der sich nie die Finger schmutzig machte, die Küche streichen wollte, brachte mich fast zum Kichern.

Mir verging das Kichern, da er es heute machen wollte. Geburtstage wurden sowieso nicht gefeiert oder registriert, aber ich hatte mit Heidi ein Zeichen ausgemacht, wann sie mich abholen konnte. Sie wohnte nur fünf Häuser weiter und konnte von ihrem Zimmer das Schlafzimmerfenster meiner Großmutter sehen. Immer wenn die Luft rein war, stellte ich etwas Rotes ins Fenster. Wir wollten ins Schwimmbad gehen und Heidi sagte, sie hätte eine Überraschung für mich. Es war noch nicht 7 Uhr als die Alte das Haus verließ und der Alte seine Kommandos gab die Küche auszuräumen. Ständig schaute ich auf die Uhr und fragte Nigg, ob er mir helfen wollte, damit ich Heidi im Schwimmbad treffen könnte. Wir arbeiteten wie die Ameisen, wuschen alle Möbel ab, und dann schrubbte ich den Fußboden. Es war 2 Uhr nachmittags, und wir hatten noch nichts zum Frühstück oder Mittagessen gehabt. Mir war es fürchterlich schlecht, und ich war völlig erschöpft von dem schweren Möbel Heben und putzen.

Wenn ich jetzt etwas sage, dann sagt er später, wenn ich fort wollte, ich dachte Dir ist’s schlecht, also hielt ich meinen Mund. Keine Ahnung wie Nigg es schaffte, aber er sagte, schnell beeil’ Dich, der Alte hat ja gesagt, aber Du musst in einer Stunde zum Kochen wieder zurueck sein. Das lohnt sich doch gar nicht, ich brauche ja schon zwanzig Minuten ins Bad und zwanzig zurück. Nigg sagte geh und sei froh, dass er Dich überhaupt mal weglässt, komm’, ich fahre Dich mit meinem Fahrrad zur Wörnitz, das unser Schwimmbad war. Er hatte sogar meinen Bikini mitgebracht.

Im Schwimmbad angekommen stellte ich fest, dass Heidi und meine anderen Schulfreundinnen nicht mehr da waren. Ich blieb trotzdem, um ins Wasser zu gehen. Nigg versprach mir, mich um dreiviertel wieder abzuholen. Da kamen die drei großen Buben im Boot und fragten, ob ich ein bisschen Boot fahren wollte. Ich fühlte mich geehrt und erzählte ihnen, dass ich heute Geburtstag hatte, und sie paddelten die Wörnitz hinauf. Wir müssen wieder umkehren, ich muss um vier Uhr zu Hause sein. Es ist doch Dein Geburtstag. Wir zeigen Dir etwas Schönes, dann fahren wir wieder zurück. Aber zuerst musst Du uns Deine Brüste zeigen. Da war’s wieder, das zweite Ich, das immer nachgab, damit mir nichts passiert, aber diesmal wollte ich nicht die zweite Traudl sein und wehrte mich. Der größte von allen stand auf und schaukelte das Boot. Schnell überlegte ich, ob ich es schaffen würde, ans Ufer zu schwimmen, aber letztes Jahr ist ein großer Junge in den Schlingpflanzen hängen geblieben und ertrunken. Als der große Junge mir mein Bikinioberteil herunterriss und sich auf mich legte, kippte das Boot. Im Wasser hatte ich zwei Möglichkeiten, den Fluss abzuschwimmen oder direkt ans Ufer. Ans Ufer konnte ich nicht, wen ich ja nicht nackig zu meinen Kleidern rennen konnte. Jeder auf der Strasse konnte mich dann sehen. Es war mir unmöglich, die ganze Strecke zurückzuschwimmen, also schwamm ich vorsichtig und sehr nahe am Ufer.

Einige Male blieb ich in den Schlingpflanzen hängen. Die Angst, zu spaet nach Hause zu kommen, war aber größer als zu ersaufen. Erschöpft krabbelte ich ans Ufer, suchte meine Kleider und zog mich schnell an. Dann fing ich an zu rennen und zu beten. Ich wusste nicht, warum mir schlechter war, vor Angst oder weil ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte.

Auf halbem Weg sah ich Nigg mit dem Fahrrad kommen, der mir entgegenschrie: “Schnell, der Alte führt sich auf wie ein Wahnsinniger!” Nigg radelte mit mir auf dem Gepäckträger was er konnte, und da stand “er” – auf der Steinbrücke. Er riss mich vom Fahrrad und fing wie ein Irrer an auf mich einzuprügeln. Mir wurde mehrere Male schwarz vor den Augen, und ich fiel hin, aber jedes Mal, wenn ich wieder aufstand, schlug er weiter. Er schlug mich buchstäblich von einem Ende zum anderen Ende der Brücke, bis ich ohnmächtig liegen blieb.

Es kniete eine Frau neben mir, als ich wieder zu mir kam, Nigg war auch da. Sie brachten mich nach Hause, und die Frau wollte mit meinem Vater reden. Er warf sie aus dem Haus und knallte die Haustüre zu. Dann wieder der berühmte Pfiff, und dann das Kommando in die Waschküche. Er schlug mich, bis das Blut an meinen Beinen runterlief und ließ mich auf dem Betonboden liegen. Wie in Trance rannte ich die Treppen zum Garten hinauf, kletterte über das Gartentor über den Pfarrweg zum Kriegerdenkmal. Selbst da fühlte ich mich noch nicht sicher, aber ich konnte nicht mehr weiter. Alles schmerzte und mir war’s schwindlig und schlecht. Ich weiß noch, dass ich über die kleine Mauer kletterte und vorsichtig an dem steilen Burghang entlang der Mauer auf die mannshohen Brennnesseln zu. Irgendwann hörte ich die Kirchturmuhr schlagen und wachte auf – es war finstere Nacht.

Angst war mein zweiter Gedanke. Die Angst vor den Gespenstern auf der Burg war nicht so groß wie die Angst, dass der Alte plötzlich auftauchte. Vorsichtig stand ich auf. Vor lauter Schmerzen spürte ich gar nicht, wie ich von den Brennnesseln gestochen wurde; ich fühlte nur, dass alles, auch mein Gesicht, geschworen war. Langsam und in der Hocke rutschte ich den siebzig Prozent steilen Burghang hinunter und erreichte die Strasse und das große Tunnel. Ich hatte eine riesige Angst vor den zwei Tunnels, weil da fast keine Möglichkeit war zu Fuß durchzugehen. Es war gerade genug Platz für sich begegnende Autos.

Was tun? Wenn ich durch die Stadt ging, war es möglich, jemandem zu begegnen oder sogar der Alte suchte mich. Niemals würde er mich auf der großen Strasse vermuten. Also keine Chance, ich musste durch^s Tunnel. In der Nacht fahren sowieso fast keine Autos, vielleicht schaffe ich es ohne totgefahren zu werden. Ich horchte, ob ich ein Auto kommen hörte. Es war Totenstille, Dann rannte ich los. Ich rannte die achthundert Meter in dem dunklen Tunnel, als wäre der leibhaftige Satan hinter mir her. Ich schaffte das Ende als ich ein Auto hörte. Mit einem Satz sprang ich ins Gebüsch. Ich konnte ja im Dunkeln nicht genau sehen, was es war, aber ich spürte es gleich, dass es eine Windrosen­hecke war. Das Auto war vorbei, aber ich hatte noch den kleinen Tunnel mit zweihundert Metern vor mir, das war nicht mehr so schwer. Dann rannte und rannte ich bis ich die Lichter von Ebermergen sah, als ein Lkw anhielt und mich fragte, ob er mich mitnehmen könnte, er führe nach Donauwörth.

Da fiel mir ein, dass Hassan und Fatima dort wohnten, irgendwo oben auf dem Berg in einem gelben Haus. Der Mann brachte mich mit dem Lastwagen dorthin, obwohl es ein sehr schmaler Feldweg war. Da erfuhr ich, dass Hassan umgezogen ist. Der Mann in seinem Haus war auch Türke und verstand nur Hassan und Fatima. Der Mann im Lkw musste weiter, und ich stand da, nachts um ein Uhr, und wusste nicht weiter. Der türkische Mann weckte seine Frau, die dann an die Haustüre kam. Sie redeten miteinander, und sie nahm mich bei der Hand und holte mich ins Haus. Als ich dann in einem Zimmer war, wo zwei Kinder auf der Couch schliefen, sah sie mich an und schlug beide Hände vor’s Gesicht. Sie brachte ein nasses Tuch mit Essig getränkt und tupfte mein Gesicht ab und zeigte mir, ich sollte meine Hände darin einwickeln. Ihr Mann hatte sich angezogen, zeigte mir einen Autoschlüssel und sagte: “Hassan, Hassan?” Er brachte mich zu Hassan.

Als Hassan die Tür öffnete und mich sah, sagte er: “nicht in mein Haus kommen, Dein Vater viel Ärger machen und ich zurück nach Türkei. Bitte, Du nach Hause gehen.” Der andere türkische Mann schob schimpfend Hassan auf die Seite und zog mich ins Haus, Er machte Licht und zeigte Hassan mein Gesicht und meine Hände und deutete ununterbrochen auf meinen Rücken. Nach ein paar Minuten stand Hassan auf und führte mich ins Bad. Er ließ die Wanne vollaufen. Da spürte ich, dass er seine Meinung geändert hatte. Er schüttete irgendwelche Kräuter ins Wasser, brachte mir ein Nachthemd und sagte, ich sollte solange wie möglich im Wasser bleiben.

Langsam aber sicher fühlte ich mich in Sicherheit. Als er aus dem Bad war, zog ich mich aus, und dann sah ich, was der andere türkische Mann meinte, und ich verstand die bedauernswerten Blicke des Lkw-Fahrers. Das heiße Wasser war gut, und es brannte an den offenen Wunden, alles tat weh, und meine Knochen waren wie mit Blei gefüllt. Hassan klopfte an die Tür, ich solle jetzt herauskommen, er habe mein Bett fertig. Ich war so erschöpft, dass ich das liebgemeinte Memele mit Toast fast nicht essen konnte. Ich schlief auf der Stelle ein.

Hassan weckte mich, gab mir ein Glas Tee und einen Toast. Er sagte, wir müssen zum Doktor. Nein, sagte ich sehr bestimmt, und erinnerte mich, als ich das letzte Mal im Krankenhaus war.

Hassan erzählte mir, dass Fatima im Krankenhaus ist und einen Sohn bekommen hat. Fatima hat gesagt, Du musst zum Doktor. Als er meinen Widerstand sah, gab er auf und holte Verbands­zeug und reinigte meine Wunden am Rücken, im Gesicht und an den Händen. Dabei erzählte er mir, dass er Sanitäter bei der türkischen Armee war, und ich brauchte mich nicht zu schämen. Er sah auch meine geschwollene Hüfte und Oberschenkel, wo sich langsam Blutergüsse abzeichneten. Er gab mir eine Schüssel Wasser mit irgendwas Scharfem drin, legte ein kleines Handtuch hinein und sagte, ich solle damit Umschläge machen.

Am dritten Tag fühlte ich mich besser, und er merkte das auch. Er fragte mich, ob er meine Mutter anrufen sollte. Nein, wenn Du das tust, gehe ich gleich. Hassan beruhigte mich und sagte, er würde warten, bis ich bereit wäre. Von diesem Moment an plante ich schon meine weitere Flucht, aber wohin? In der dritten Nach hörte ich ein Geräusch, ich schlief ja schon seit Jahren im halbwachen Zustand, immer bereit für Überraschungen.

Hassan kam ins Zimmer und setzte sich ans Bett. Er fragte mich, ob ich wüsste, das er gut zu mir war. Ich dankte ihm noch einmal. Dann fragte er mich, ob ich auch gut zu ihm sein wollte, und er es mit mir machen dürfte. Mir wurde schlecht vor Angst. Ich versprach ihm, lieber das Haus zu putzen, zu waschen und bügeln, aber bitte nicht das. Er schimpfte mich, ich sei undankbar, und er würde meinen Vater sofort anrufen. Mein anderes Ich gab nach, und ich fühlte mich so schmutzig und wehrlos wie zwei Tage zuvor. Ich hasste mich selbst, aber es nützte nichts. Am nächsten Morgen war meine Mutter da mit verheulten Augen und tat so, als wäre das, was mir geschehen ist, das erste Mal. Ich hätte ihr gerne ins Gesicht gespuckt.

Ein paar Tage später sah ich die Jungens von der Bootsfahrt wieder, aber einzeln. Ich hatte mir eine Stunde Freiheit gestohlen, natürlich durch eine Ausrede und bin alleine auf die Burg gegangen, die mir mehr und mehr als eine Festung war. Ich fühlte mich dort immer beschützt. Es war schon später Nachmittag, und ich war auf dem Weg nach Hause, als ich einen der Jungens wieder sah. Zuerst wollte ich nicht mit ihm sprechen, aber er überzeugte mich, dass es ihm sehr leid täte, was geschehen war. Es wussten anscheinend alle im Ort. Wir setzten uns aufs Kriegerdenkmal. Es war auch der Name meines Onkels mit auf dem Gefallenen- Gedenk­stein. Er erzählte, dass er sich in mich verliebt hätte, und ich hätte eine gute Figur. Von da an weiß ich nur noch, dass ich von ihm vergewaltigt wurde, und hinterher auch noch eine Schlampe genannt.

Zwei Tage später, es war schon neun Uhr abends, als ich von jemand aus der Tankstelle nach Hause gebracht wurde und an der oberen Strasse abgesetzt. Ich nahm eine Abkürzung durch den Friedhof nach Hause. Kurz vor dem Friedhof war ein anderer der drei Jungens von der Bootsfahrt. Er fragte mich, ob ich keine Angst hätte, im Dunkeln über den Friedhof zu gehen. Aber ich hatte keine Angst, dort war ja meine Lella begraben. Das sagte ich ihm aber nicht, sondern verneinte nur seine Frage.

Er bot mir an, mich nach Hause zu begleiten, aber ich wollte nicht und ging weiter. Er folgte mir trotzdem und sagte mir, dass der Heinz ihm erzählt hätte, dass wir es zusammen getrieben hätten. Mir wurde himmelangst, aber ich sagte nur, dass der Heinz lüge. Als wir dann in der Nähe der Leichenhalle waren, passierte es. Alles, an was ich mich erinnerte, war, dass ich immer hoffte, dass meine Lella aus dem Grab kommt und mir hilft. Aber niemand half mir.
Wie immer.