SoS – 15 Der gefrorene Fluss

Morgen ist Sylvester, und ein neues Jahr beginnt, ein Jahr, in dem alles anders wird. Im März werde ich vierzehn und im Juli komme ich aus der Schule. Jetzt ist es schon gar nicht mehr möglich, an die Mittlere Reife zu denken. Zuvor war es nur der Terror, den ich täglich erleben würde, wenn ich noch länger zur Schule gehe; heute kommt auch noch die Tatsache, dass die Familie kein Geld mehr hat dazu. Dass wir alle blöd und dumm sind, glaubte ich ja schon lange nicht mehr. Dumme Menschen denken nicht soviel über Recht und Unrecht nach und wehren sich auch nicht so wie ich es tue. Es kostet mich immer eine große Überwindung, an der hinteren Ladentüre vorbeizugehen oder der Frau im Laden zu begegnen. Meistens ging ich über den Garten zur Hintertüre ins Haus.

Meine Gedankenverlorenheit wurde wie immer unsanft durch den “Pfiff unseres Herrgotts” unterbrochen. Eure Mutter muss mit Euch reden. ‘Euch’ hiess immer Nigg und ich. Er verließ die Küche, und meine Alte fing weinerlich an zu fragen, was sollen wir machen, wir haben kein Heizöl mehr, und den Küchenofen können wir auch nicht schueren, weil das Holz bald zu Ende ist.

Wie ich Euch dann morgen etwas zu essen kochen soll, weiß ich nicht. Habt Ihr eine Idee? Nein – schon wieder stehlen, dachte ich, auf keinen Fall, da mach’ ich nicht mehr mit. Ich machte den Vorschlag, dass sie ihren Schulfreund, den Lanzer Hans, fragt, ob er uns auf Kredit Heizöl gibt. Sie wurde bitterböse. Der gibt uns nichts mehr.

Ja, warum nicht, fragte ich. Weil wir ihm die letzten zwei Rechnungen nicht bezahlen konnten. Sie fing an, über den Mann herzuziehen und ihn alles zu heißen was schmutzig war. Wir waren total verwundert, da der Hans doch angeblich seit Jahren ihr bester Schulfreund war. Mittlerweile wussten wir, dass alle, die ihr keinen Gefallen mehr taten, schlechte Leute waren. Sie stellte es jedoch so hin, dass sie es war, die all denen geholfen hatte. Nigg und ich schauten uns an. Wir glaubten kein Wort, weil wir es besser wussten. Aber das Problem war nicht gelöst.

Vorsichtig fragte ich, was mit dem Geld sei, das der Alte heimbrachte. Ihre Antwort war, das geht Euch nichts an, überlegt lieber, was wir machen und verließ die Küche. Wir? Nigg und ich schauten uns an, und ich fragte, die Alte glaubt doch nicht wir gehen auch noch Heizöl stehlen, das geht doch gar nicht.

Falsch, sie hatte einen perfekten Plan, der erklärte, wie wir es zu machen hatten. Sie sagte noch dazu, Ihr müsst verstehen, dass Ihr kein Wort sagen dürft, dass ich etwas davon weiß, solltet Ihr erwischt werden. Es war unbegreiflich für mich, dass wir ausgerechnet diesen netten Mann bestehlen mussten. Sie sagte, legt Euch schlafen, ich wecke Euch, jetzt ist es noch zu früh.

Bevor ich einschlief, betete ich um ein Wunder, aber es kam nicht. Sie weckte uns, es war fast Mitternacht. Wir zogen uns warm an, denn es war bitterkalt. Geht bis zur Lutschack-Gaststätte und dann auf dem gefrorenen Fluss weiter bis zum Raiffeisen Lager. Im Hinterhof stehen die Heizöltanks, die haben sogar eine Pumpe. Nigg meinte, da bin ich aber froh, dass ich es nicht mit dem Schlauch absaugen muss. Wir hatten auf dem Schlitten zwei Zehn-Liter-Kanister festgebunden. Auf dem Weg hat Nigg eine echte Wut bekommen. Wir müssen das Heizöl stehlen, damit’s der Alte schön warm hat, seine fette Zigarre rauchen kann und Radio hören. Der soll doch selber mitten in der Nacht stehlen gehen. Wenn der uns noch einmal schlägt, dann bringen wir ihn um. Das ist die einzige Lösung, sagte ich. Sofort hatte ich eine Idee. Wenn ich wieder koche, mische ich Rattengift in sein Essen. Das geht nicht, das schmeckt man, und vielleicht isst er es nicht und schüttet es zurück in den Topf, und dann isst es jemand anderes und stirbt.

Mittlerweile sind wir beim Lutschack angekommen. Soweit hat uns niemand gesehen. Wir gingen zum Wasser. Hoffentlich ist das Eis dick genug, Nigg testete es. Er war sich nicht so sicher, und wir suchten einen anderen Weg, aber da war keiner. Wir konnten mit dem Schlitten mit Kanistern nicht über den hohen Zaun und vor allem nicht zurück mit den vollen. Also keine Chance, wir mussten aufs Eis.

Vorsichtig und so nah wie möglich bewegten wir uns am Ufer entlang, hintereinander, damit die Betastung verteilt wurde, denn das Eis war wirklich nicht sehr dick. Bis jetzt hatten wir schwaches Licht von den Straßenlampen, aber weiter vorne war es kuhnacht, und das Ufer war steil. Wir schafften es und waren im Hinterhof des Lagerhauses.

Seit wir aufhörten Mordpläne zu schmieden, war die Angst wieder da. Wir mussten über die ständige Angst nicht reden, wir kannten sie und lernten damit umzugehen. Der Rest war fast mechanisch, ich war das nicht, die dort um Mitternacht stahl. Die Pumpe war eingefroren. Nigg sagte, wir müssen die Hände ein wenig dran halten, vielleicht taut sie auf. Meine Hände waren sowieso schon kalt. Dann versuchte Nigg es noch einmal; sie ging, aber quietschte fürchterlich.

Es war ja Totenstille überall. Nigg wickelte seinen Anorak über die Pumpe, und langsam bewegten wir den Hebel der Handpumpe hin und her. Luft – der Tank ist leer, was jetzt? Der Kanister ist nicht einmal halb voll und der andere noch leer. Es war noch ein zweiter und voller Tank daneben, aber wo bekommen wir einen Schraubenschlüssel her, der auch noch passt? Wir trennten uns, und wir fingen an zu suchen. Es war alles so gespenstig.

Nigg fand einen Franzosen (Schlüssel). Es war alles bloß nicht leicht, den Fassverschluss zu öffnen, da der Schnee angefroren war.

Endlich hatten wir beide Kanister voll und stellten fest, das das Eis das Gewicht nicht tragen wird. Wir lernten, durch solche Situationen, in denen wir waren, schnell und logisch zu denken. Ich ging zuerst an die Stelle zurück, an der wir aufs Eis gegangen waren. Dann kam Nigg zuerst mit einem Kanister und holte dann den zweiten, und wir machten uns auf den Heimweg.

Meine Gedärme rebellierten, ich hatte schon wieder Durchfall, und mir war es schlecht. Ich sagte nichts zu Nigg und unterdrückte es. Als wir kurz vor unseren Haus waren, sah ich unsere Schlittenspuren. Man konnte genau sehen, wo der Schlitten aus dem Haus ging und wo er zurück kam. Nigg! Ich zeigte nur auf die Spuren. Wir waren beide blass vor Angst. Komm’, flüsterte er, und wir zogen den Schlitten am Haus vorbei bis ans Adlerhaus. Wir stellten die Kanister ab, und ich trug den Schlitten die gefrorenen Steintreppen hinauf, stelle ihn in die Fahrtrichtung, dann ging ich hinunter, um Nigg mit den Kanistern zu helfen. Sie waren schwer. Ich musste meinen mehrere Male abstellen, bevor ich oben war. Der Weg war zu schmal für uns beide zusammen.

Nigg zog, ich schob bis zu unserem Gartentürchen. Ich ging ins Haus und sagte, dass wir Hilfe brauchten. Wo bleibt Ihr solange? Das war alles. Mein Bruder und ich überlegten uns, was wir machen sollten wegen der Spuren. Die sind ja auch im Lagerhof bei den Ölfässern. Wir machten uns Vorwürfe, weil wir nicht gleich daran gedacht hatten. Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätten wir sie gleich gesehen und sie etwas verwischen können oder einen anderen Weg nehmen. Wir sahen uns schon in Gedanken auf der Polizei, denn die Alte hat ja gesagt, dass sie von nichts weiss, wenn wir erwischt werden. Als wir nicht mehr wussten, was wir tun könnten, hatte ich den Gedanken, vielleicht schneit es bis morgen früh.

Um sechs Uhr erwachte ich aus einem unruhigen Schlaf und ging zum Fenster. Frischer Schnee war gefallen. Alles was ich sagen konnte war “danke, lieber Gott?” Ich schlich mich hinauf zu Nigg und weckte ihn und wollte ihm den Schnee zeigen. Er sagte, ich hab’s auch grad’ gesehen. Die Alten schliefen noch, also ging ich auch wieder ins Bett, aber schlafen konnte ich nicht. Meine Gedanken zeigten mir Bilder von Familien in unserer kleinen Stadt. Da waren die Heinzelmayers mit vielen Kindern. Wie die Mutter das Baby brustfütterte und die kleinen Kinder, eng an sie geschmiegt, einfach dabei waren und sie mit der anderen Hand streichelte. Frau Reischel, unsere Nachbarin, die auch manchmal weinte, weil ihr Mann sie oft schimpfte, und sie hatte doch noch das andere Baby, das nicht ganz normal war, und trotzdem küsste sie ihr Mann immer, wenn er aus dem Haus ging. Da waren die Busers. Der eine war mein Buser-Papa, und der andere der Metzger Buser, und die hatten auch Kinder und Geld, und trotzdem waren sie sehr gut zueinander.

Geld war bei uns auf einmal sehr wichtig geworden, vorher war es halt da, weil es eben so war; das machte meine Eltern so einflussreich, und die Leute glaubten fast alles, was sie sagten. Jetzt ist es nicht mehr da, wir Kinder litten seelisch und körperlich mehr als zuvor darunter, da die Alten jetzt fast täglich zu Hause waren. Der Alte hat ja fast jeden Tag einen Tobsuchtsanfall wegen Nichtigkeiten, und es gab mehr Prügel als Essen. Trotz alldem sehe ich, dass sie anscheinend nicht mehr die Unantastbaren waren, und die Leute kehrten ihnen den Rücken.

Sie, diejenigen, die überall den Ton angaben, mussten stehlen, und sie sind so feige, dass sie es nicht einmal selbst tun. Sie schickten ihre Kinder. Ich spürte ihre Schwäche und irgendwie bekam ich dadurch Kraft. Langsam fing an mich stärker zu fühlen und sagte es auch. Als ich wieder einmal in die Waschküche musste und der Alte mich mit einem seiner “hergöttlichen” Sprüche einschüchtern wollte, wie “ich mach’ Dich gehorsam”, und zeigte dabei den Gummischlauch, da fasste ich allen Mut zusammen und sagte, das ist aber auch schon alles, was Du kannst.