SoS – 18 Der Absprung

Als ich zu Hause war, musste ich mir anhören, dass ich ein Tu-nicht-gut sei und sie mich in eine andere Arbeit stecken würden. Ein paar Tage später arbeitete ich in der SWF-Fabrik in Wemding. Es war eine Maschinenfabrik, die Autoteile herstellte in Akkordarbeit. Es waren nur sehr wenige Frauen dort beschäftigt und wenn ich mich recht erinnere, nur drei junge Mädchen, und ich war eines davon. Wir waren mehr damit beschäftigt, uns die Männer vom Hals zu halten als mit der Arbeit. Das fing schon am Morgen an, wenn der Firmenbus alle Arbeiter aus dem Umkreis zusammen holte. Es war immer wie ein Spießrutenlaufen, wenn ich in den Bus einstieg. Die Bemerkungen und die lüsternen Blicke flößten mir Angst und Hilflosigkeit ein. Ganz selten gelang es mir, auf die hintere Sitzbank zu kommen, ohne dass mich einer dieser lüsternen Schweine anfasste. Wenn ich mich wehrte wurde ich zum Mittelpunkt, denn alle fanden es nett wie ich mich schämte; zugleich wurde mir erklärt, dass das eben so sei in der Welt, und ich solle doch endlich erwachsen werden und begreifen, dass die Welt von Männern regiert werde und sie es seien, die es den Frauen erlaubten zu arbeiten.

Dann ging es am Arbeitsplatz weiter mit den Belästigungen. Der Meister, der die Abteilung leitete, in der ich war, fand immer einen Grund mich zu belehren, wobei ich dann in sein Büro kommen musste. Seine Belehrungen fanden dann in Form von Einschüchterungen statt, die mit betatschen endeten.

Seit einiger Zeit merkte ich, dass mich einer der Gesellen beobachtete und mich dann schließlich auch ansprach. Er war nicht wie die anderen, so dass ich mich von diesem Augenblick an etwas geschützt fühlte. Wenn ich mit ihm zusammen die Mittagspause verbrachte, ließen mich die anderen in Ruhe. So entstand eine sehr enge Freundschaft, die mir Hoffnung gab und mir die Angst, in die Arbeit zu gehen, fast genommen hatte. Wir trafen uns auch außerhalb der Arbeit. Nach ein paar Monaten fragte er mich, ob ich mich mit ihm verloben würde, er würde auch meinen Vater fragen. Ich erzählte ihm im Laufe der Zeit wie mein Leben zuhause ablief, aber es schreckte ihn nicht ab mit meinem Vater zu reden; er konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich so schlimm war.

Als er meinen Vater dann kennenlernte, wurde es ihm klar: Er warf ihn mit der Bemerkung “primitiver Arbeiter” aus dem Haus. Wir trafen uns aber trotz aller Drohungen und Verbote weiter. Eines Tages fragte ich ihn, ob er wüsste, wie man ein Kind machte. Er antwortete ja, aber er wollte wissen warum ich fragte. Ich erklärte ihm, dass, wenn ich ein Kind bekäme, er mich heiraten könnte und ich nicht mehr nach Hause müsste. Er sagte, er würde es sich überlegen.

Von Anfang an, als die wöchentlichen Lohntüten verteilt wurden, bekam ich nur einen Lohnabschnitt, der besagte, dass der Lohn als Vorschuss ausbezahlt worden war. Die Unterschrift meiner Mutter auf dem Papier zeigte, dass sie mein Geld schon eine Woche vorher abgeholt hatte. Das ging so für vier Monate, bis ich eines Tages in der Pause ohnmächtig und ins Krankenhaus gebracht wurde. Es wurde festgestellt, dass ich aus Schwäche und Unterernährung zusammengebrochen war. Daraufhin wurde mir fristlos gekündigt. Das schüchterte meine Eltern nicht im geringsten ein, denn sie fanden gleich wieder eine andere Stelle, bei der ich versklavt wurde; ich landete in der Gaststättenküche des Kaufhauses Steingass. Die Lohntüte war jedesmal genauso leer. Sie hatte den Lohn, wie zuvor, als Vorschuss abgeholt.

Eines Sonntag nachmittags, wir waren in der Zwischenzeit an einen anderen Ort gezogen, bekamen wir Besuch. Wie so oft, musste ich etwas zur Gelegenheit Passendes anziehen. Diesesmal sollte ich erwachsen aussehen und durfte sogar Lippenstift benutzen. Was ich aber am meisten hasste, war das Zurschaustellen meiner Stimme. Ich musste immer ein besonderes Lied, das drei verschiedene Oktaven erreichte und mehrere Male das hohe C beinhaltete, vorsingen. Das war der Tag, an dem ich betete, lieber Gott, ich will keine Singstimme mehr haben. Das war aber nicht alles. Die erwachsene Verkleidung hatte einen ganz anderen Grund, der mich so ziemlich zum niedrigsten Geschöpf Gottes machte. Ich sollte als Vierzehn-, fast Fünfzehnjährige mit einem Mann von fünfundsechzig Jahren verheiratet werden.

Als der Gast wieder gegangen war, wurde mir erklärt, dass er sehr vermögend sei, und die ganze Familie, wie es sich gebühre, in Wohlstand leben könne. Ich solle mir keine Sorgen machen, da ich mit Sicherheit bald Witwe sein würde, weil er Leberzirrhose habe und nur noch wenig Zeit zum Leben. Danach würde ich sein ganzes Geld besitzen, und wir alle hätten für immer ausgesorgt. Das war das Ende. Ich fing an mich zu wehren, indem ich eines Tages nicht mehr zur Arbeit ging.

Es war Montag und ich fuhr per Anhalter zu meinem Freund anstatt zur Arbeit. Er war aber schon in der Fabrik, so dass ich den Mann am Werktor bat ihn zu benachrichtigen, dass ich da sei und er bitte sofort kommen solle. Er kam und ich erzählte ihm, was am Wochenende vorgefallen sei. Er nahm sich sofort frei und brachte mich zu seiner Mutter nach Hause. Ich freute mich über den herzlichen Empfang in seinem Elternhaus, und seine Mutter sagte dann noch, es wird alles gut werden. Anscheinend wusste sie über alles Bescheid. Noch am selben Tag beschlossen wir, dass ich ein Kind bekommen müsse und dass dies die einzige

Lösung sei. Dabei kam das große Erwachen und auf einmal begriff ich, was ich vorher alles erlebt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt verstand ich gar nicht, dass all die sexuellen Belästigungen etwas zu tun hatten mit Kinder kriegen und trotzdem war mir noch nicht klar warum mein Bruder Lutz und alle anderen es taten, denn für mich war es pure Tortur.

Als wir fertig waren mit dem Kindermachen wurde er sehr böse und fing an mich eine Lügnerin zu heißen, und er würde jetzt auch verstehen, warum die anderen mich eine Schickse nannten, ich sei ja keine Jungfrau mehr. Für mich brach die Welt zusammen, denn ich verlor in diesem Moment den einzigen Menschen dem ich vertraute und wusste noch nicht einmal warum. Im Streit verließ ich sein Haus.

Ich war für ein paar Monate in ganz Deutschland per Anhalter unterwegs. Danach wurde ich krank und immer schmaler. Deshalb ging ich zur Polizei und bat um Hilfe. Sie informierten jemand von Jugendamt, die mich wiederum nach Hause schicken wollten. Ich wehrte mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln und erzählte, dass wir Kinder geprügelt wurden, dass meine Mutter mich verkauft hatte und jetzt auch noch an einen alten Mann verhökern wollte. Ich schämte mich zu sehr zu sagen, dass ich mehrere Male sexuell belästigt wurde.

Die Leute vom Jugendamt sagten mir sie könnten nichts dagegen tun, und ich müsste wieder nach Hause. Sie hätten mit meinen Eltern gesprochen, und die hätten sie gewarnt vor den Geschichten, die ich erzählen würde und dass ich eine sehr ausgefallene Phantasie hätte. Daraufhin wusste ich, dass ich die Leute nicht überzeugen konnte, also blieb mir nur noch drohen. Gut, sagte ich, wenn ich wieder nach Hause muss, werde ich alles tun, stehlen oder auch jemanden umbringen, damit ich wenigstens ins Gefängnis darf. Das war dann schockierend genug. Ich wurde in ein Mädchenheim in Augsburg gebracht, was aber nur die Zwischenstation für meine spätere Lehrstelle war.

Dort wurde ich erst einmal ins Krankenhaus gebracht, da ich seit längerer Zeit starke Unterleibs­schmerzen hatte. Ich hatte eine Operation, und als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, erklärte mir die Heimleiterin, dass ich eine Eileiterschwangerschaft gehabt hätte. Mir war dann klar, dass mich mein Freund, dem ich vertraute, auch belogen hatte, als ich ihn fragte ob er wüsste wie man Kinder macht. Seinetwegen hatte ich eine Operation, seinetwegen hatte ich all diese Schmerzen. Selbst danach hatte ich noch immer keine Ahnung von menschlicher Fortpflanzung, und es klärte mich auch niemand auf.

Mehr über meine Lehrzeit im Mädchenheim Weiher