Offener Brief an Dr. Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs

Dr. Christine Bergmann
Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs
Bundesministerin a. D.
Glinkastrasse 24 10117 Berlin
11018 Berlin

21. Juli 2011

Sehr geehrte Frau Dr. Bergmann,

wir, das EMaK Team der Organisation Erwachse Misshandelt als Kinder, haben die Veröffentlichungen zu Ihrer Arbeit am Runden Tisch Sexueller Missbrauch aufmerksam verfolgt. Wir möchten hierzu aufgrund unserer Erfahrung und der uns vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse Fakten beitragen, die für Ihre weitere Arbeit an diesem Thema nützlich sein könnten.

Es ist traurig, dass Opfer, speziell Kinder, lernen müssen, wie sie sich schützen könnten. In Wirklichkeit gibt es aber keinen Schutz vor sexueller Gewalt, schon gar nicht für Kleinkinder und Babys.

Der natürliche Weg wäre es, dass Erwachsene Kinder schützen, doch genau hier beginnt das Drama mit seinen katastrophalen Folgen.

Die Täter

Sexuelle Gewalt gab es schon immer. Der Kreis der Täter und Opfer wird aber immer größer.

Doch wird das Ausmaß der heutigen Situation wirklich erkannt und ist es noch kontrollierbar? Wir meinen: nein. Wenn wir die jetzt existierenden Täter nicht isolieren, ist die Kapazität, Opfer zu schützen, bald erschöpft, und wir verlieren die Übersicht, um nachwachsende potentielle Täter zu entdecken.

Wenn wir nicht verstehen, wie aus einstmals unschuldigen Kinder Triebtäter werden, wenn wir nicht zu den Ursachen vordringen und diese dann zu vermeiden helfen, werden wir für immer erfolglos bleiben.

Noch gibt es für die begangenen Sexualstraftaten keine Einzelanalysen, die wissenschaftlich beweisen könnten, dass es für sexuelle Gewalt Heilung gibt. Weltweit wurde aber inzwischen erkannt: Je später ein Opfer von Sexualmisshandlungen therapeutisch behandelt wird, desto höher ist die Gefahr eines sog. Reenactments, was nichts anderes bedeutet, als dass das Opfer selbst in unbewusster oder auch bewusster Wiederholung des erlittenen Traumas zum Täter wird.

Obwohl man die Hypothese aufgestellt hatte, es könnte eine genetische Veranlagung geben, die einen Sexualstraftäter identifiziert, konnte sie nicht nachgewiesen werden. Vielmehr zeigte sich, dass die sexuelle Abartigkeit eines Täters ihren Ursprung in eigener frühkindlicher Gewalterfahrung und unerfüllter frühkindlicher Bedürfnisse hat. Indem der Täter pervertierte sexuelle Gewalt auslebt, verschafft er sich unbewusst eine Erfüllung der „verpassten Liebe“, was sich in einer Freisetzung des Hormons Oxytocin, dem sog. Liebeshormon, ausdrückt. Des Weiteren ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass durch sexuelle und jede andere Gewalt im Opfer veränderte Genome produziert werden.

Dazu gibt es einige internationale wissenschaftliche Arbeiten, die zusammengefasst Folgendes aussagen:

Alle Sexualstraftäter haben einen momentanen Gewinn aus dem Akt. Es geht nicht allein um sexuelle Befriedigung, sondern vor allem um die Erfahrung von Macht, weil sie bei einem ähnlichen Gewalterlebnis, in dem sie das Opfer waren, machtlos waren. Der tiefere Grund warum ein Gewalttäter in seinem Opfer vor allem das Ungeschützte, Wehrlose sucht, ist, dass er seine eigene Hilflosigkeit zu ersticken sucht, die er / sie selbst erfahren hat. Er versucht seine unerfüllten Bedürfnisse zu stillen und wiederholt gleichzeitig die eigene schmerzvolle Erinnerung, um sich abzureagieren und um den eigenen Schmerz zu lindern. Weil aber genau diese Erwartungen nicht erfüllt werden kann, müssen die Täter die Tat endlos wiederholen.

Es ist eine mittlerweile empirisch belegte Erfahrung, dass Sexualverbrecher nicht geheilt werden können. Die Rückfälle nach Entlassung beweisen dies augenfällig.

Wenn aber die Ursache für diese Gewalttaten nicht erkannt wird, gibt es auch keine wirksamen präventiven Maßnahmen.

Eine wirksame Problemlösung muss also bei der Frage ansetzen, WARUM er oder sie zum Sexualgewalttäter, zur Sexualgewalttäterin geworden ist. Vereinfachend zusammengefasst kann man sagen, dass der Ursprung von Gewalt in der frühen Kindheit beginnt, und meistens in den Elternhäusern. Dort wird die Vulnerabilität erzeugt und genährt.

Nicht alle in der Kindheit sexuell Misshandelten werden zu Tätern, doch alle Täter wurden als Kinder sexuell misshandelt. Dieser Fakt ist für eine wirksame Gewaltprävention von größter Bedeutung. Es reicht nicht aus, Sexualstraftäter einzusperren, um sie dann ein paar Jahre später wieder freizulassen. Wollen wir potentielle Opfer tatsächlich schützen, brauchen wir die ehrliche Bereitschaft der Verantwortlichen, die Realität zu konfrontieren und daraus wirksame Schlüsse zu ziehen.

EMaK liegen zahlreiche Berichte von sexuell Misshandelten vor. Wir wollen die Opfer dadurch unterstützen, indem wir auch eigene Erfahrungen mit sexueller Gewalt veröffentlichen. Wir wollen aufzeigen, dass sexuelle Gewalt viel häufiger auftritt, als man gemeinhin annimmt, in jeglicher Form und in allen Schichten dieser Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, das Problem grundlegend und wegweisend anzugehen.

Ein Kind, das im Elternhaus nie die Erfahrung gemacht hat, dass sein Nein auch ein Nein bedeutet, dass es gehört und respektiert wird, kann keinen ausreichenden Selbstwert entwickeln und sich somit auch nicht schützen.

Wenn es einem Kind unter Androhung von Strafe und durch wiederholtes Schlagen und Verprügeln verboten ist, etwas abzulehnen, was von seinen Autoritätspersonen eingefordert wird – bis hin zur Preisgabe des eigenen Körpers in sexuellen Handlungen (sehr häufig durch Eltern und / oder anderen Personen des nahen Umfelds) -, hat es gelernt nicht zu widersprechen und keinen Widerstand zu leisten. Diese Resignation lässt keine Ich-Bildung und keinen Selbstwert zu.

Ein solch misshandeltes und eingeschüchtertes Kind kann auch durch einen Kurs in Selbstverteidigung, so gut er auch durchgeführt wird, nicht profitieren; das Trauma sitzt so viel tiefer in den Gehirnstrukturen und braucht einen ganz anderen Zugang, soll es aufgelöst werden. Hier verweisen wir auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse der Gehirn – und Traumaforschung, die wir auf Anfrage bereitstellen können.

Die Scham, die eigentlich der Täter spüren müsste, die er aber nicht mehr fühlt, weil er aufgrund eigenen Traumas von seinem Gefühl abgeschnitten ist, projiziert er auf sein Opfer. Der Täter oder die Täterin ist voller psychischer Störungen und von seinem eigenen Trauma regelrecht getrieben. Diese seine auf das Opfer projizierte Scham erzeugt im missbrauchten Kind, im Jugendlichen Selbstbeschuldigung, Selbsterniedrigung bis hin zu Selbsthass. Es braucht sehr gute therapeutische Arbeit, die nicht einfach nur im Hier und Jetzt das Missbrauchsopfer coacht, sondern es, nach gründlicher Stabilisierung, zu den Ursachen der quälenden Folgeschäden des Traumas führt. Auch hierzu können wir auf Anfrage Material liefern.

Sexualverbrechen im Elternhaus

Eine bedeutende Voraussetzung für sexualisierte Gewalt im Elternhaus ist die Schutzlosigkeit des Kindes. Kinder, die es wagten, darüber zu sprechen – und jedem Kind fällt es extrem schwer, über die trotz allem geliebten Menschen etwas „Schlechtes“ zu sagen – wurden und werden nach wie vor sehr häufig als Lügner bezeichnet, und in vielen Fällen wurde und wird ihnen vorgeworfen: Du wolltest es doch selbst!“ Also schweigen die Opfer, auch in späteren Wiederholungen von Sexualgewalt, aus Scham und aus Angst.

Aus den Erfahrungsberichten von AAaCWorld (Adults Abused as Children Worldwide) und EMaK (Erwachsene Misshandelt als Kinder)

Frau Alexander betreut seit 1994 weltweit Opfer aus allen Bereichen der Gewalt. Über 95 % der Misshandlungsfälle zeigten auch sexuelle Misshandlungen. Diese anteilmäßig hohe Zahl von sexuell missbrauchten Kindern ist für Opfer selbst nichts Neues. Sie kennen nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern oftmals auch die ihrer Freunde und Schulkameraden, die ebenfalls mit keinen Erwachsenen über die Vergehen sprechen.

Die meisten Sexualverbrechen geschahen in den sog. guten Familien, meist aus der Mittelschicht. Auf Grund des oftmals hohen Ansehens des Täters gab es keine Anzeige, und so konnten die sexuellen Misshandlungen jahrelang stattfinden. Wie die Opfer berichteten, gab es in allen Fällen aber immer mindestens einen Mitwisser oder eine Mitwisserin, und meistens war es ein Familienmitglied, das oftmals eine Anzeige verhinderte oder so tat, als ob sie / er nichts davon wüsste oder das Opfer selbst beschuldigte und unter massiven Druck setzte.
In vielen der uns vorliegenden bekannten Fälle wurden Kinder von den Eltern ganz bewusst zu Opfer gemacht. Die Gelegenheiten, in denen Kinder zu Sexualopfern wurden, sind so vielfältig, wie es die Phantasie und die Realität erlauben.

Come Here: A Man Overcomes the Tragic Aftermath of Childhood Sexual Abuse
by Richard Berendzen, Ph.D

In dieser mutigen Buchveröffentlichung beschreibt ein amerikanischer Universitätsprofessor, wie er als Kind von seiner Mutter jahrelang sexuell belästigt wurde, und wie er selbst auf dem besten Weg war, selbst zum Täter zu werden.

Die Kindheit von Sonja Djurovic

In diesem 45-minütigen Radio-Feature macht Sonja Djurovic klar, wie wenig Möglichkeiten Nachkriegskinder hatten, sich gegen sexuelle Misshandlungen zu wehren. Frau Djurovic war im Alter von 14 Jahren Opfer und Zeugin, doch der Richter forderte ein Gutachten ihrer Glaubwürdigkeit – nicht aber des von der Großmutter angezeigten Täters. Was in diesem Radio-Interview nicht erwähnt wird, sind die in Sonja Djurovics Kindheit vorausgegangenen sexuellen Misshandlungen. Es war wieder einmal das schon missbrauchte hilflose Kind, das erneut zum Opfer wurde. Als Sonja versuchte ihrer Mutter auch von den sexuellen Misshandlungen als Siebenjährige zu erzählen, die sich über Jahre hinaus dehnten, wurde sie von ihr wieder als Lügnerin bezeichnet und dafür bestraft.

Die Kindheit von Sieglinde Alexander

Als Kleinkind wurde sie von einem Arbeiter ihres Großvaters sexuell belästigt. Von da an wollte sie nicht mehr mit in die Werkstatt gehen, wo es passierte. Im Alter von 10 Jahren wurde sie von ihrem Halbbruder vergewaltigt. Danach kam eine weitere Vergewaltigung eines Angestellten ihrer Mutter. Ihr Vater untersuchte sie nach diesem Vorfall, ob sie noch Jungfrau sei, aber es erfolgte keine Anzeige des Täters. Sexuelle Nötigungen durch ältere Klassenkameraden waren für die Mädchen ihrer Heimatstadt nichts Außergewöhnliches.

Die Mädchen sprachen untereinander auch von der sexuellen Gewalt im eigenen Elternhaus. In dieser Kleinstadt wusste jeder, was in den „gutbürgerlichen Häusern“ vor sich ging, doch niemand verständigte die Behörden; „es geht ja niemanden etwas an“. Die meisten Polizisten waren zudem aus demselben Ort und glaubten, ohne jemals nachzuforschen, den Erwachsenen, die die Kinder als Lügner darstellten. Auch Sieglinde, die als 12-Jährige vom Zahnarzt auf dem Zahnarztstuhl oral vergewaltigt wurde, musste diese Erfahrung machen.

Als sie mit 12 Jahren wegrannte, um Hilfe bei einem Freund der Familie zu suchen, verlangte dieser wiederum sexuelle Gegenleistungen dafür, dass er ihr Unterschlupf und Schutz vor den Eltern gewährte. Im Alter von 14 Jahren kamen die sexuellen Übergriffe der Vorgesetzten, Nachbarn und Arbeitskollegen hinzu. Ihre Mutter schickte sie mit einem „ Freund der Familie“ aufgrund finanzieller Vorteile vier Mal ins Wochenende, und mit dem Wissen und Einverständnis der Mutter wurde sie von diesem Mann diese Wochenenden über sexuell missbraucht. Einmal organisierte es dieser Mann, dass Sieglinde in seiner Bauhütte von sechs Männern hintereinander vergewaltigt wurde. Ihr Vater interessierte sich nicht dafür, was mit seiner Tochter geschah, und ihr um ein Jahr jüngere Bruder nannte sie eine Hure. Im Alter von vierzehneinhalb und nach bis dahin 36 sexuellen Misshandlungen bat Sieglinde das Jugendamt um Hilfe; sie wollte ins Heim, weil sie dem Horror von zu Hause wollte. Ein Großteil ihrer Erfahrungen in Kindheit und Jugend ist bei www.sieglindewalexander.com auf Englisch zu lesen.

Nach Veröffentlichung ihres Manuskripts 1994 wurde Frau Alexander nicht nur von den Bürgern ihrer Heimatstadt angegriffen, sondern auch von ihrer Familie. Der markanteste Angriff kam aber von einer Tante, eine der vielen Schwestern ihres Vaters. Sie bezichtigte Frau Alexander der Lüge und der Beschmutzung des guten Namens der Familie. 1998 jedoch bekam Frau Alexander eine Ansichtskarte dieser Tante mit der Bitte, sie anzurufen. Frau Alexander erfuhr die ganze Wahrheit innerhalb von zwei Stunden, und alles, was sie schon als Kind vermutet hatte, bestätigte sich. Der Vater der Tante, Großvater von Frau Alexander, schlug seine Kinder nicht nur, er belästigte auch alle seine Mädchen sexuell. Sie erzählte, wie die Brüder ihrem Vater zusehen mussten, damit sie, wie er sagte, „ lernen, wie es richtig gemacht wird“. Später belästigten zwei ihrer Brüder die jüngeren Mädchen, wozu auch sie gehörte. Einer dieser Brüder war Sieglinde Alexanders Vater.

Der zweite Bruder ihres Vaters wurde von seiner alternden Mutter zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr dadurch erpresst, indem sie ihm das ganze Erbe versprach. Die meisten Familienmitglieder verleugnen bis heute diese Tatsachen. Die Kleinstadt wusste, was in dem „angesehenen Haus“ geschah, aber niemand sagte etwas, erzählte die Tante zum Schluss, und sie fügte hinzu: „Sie sagten deshalb nichts, weil es in ihren Familien genauso zuging“.

Die Opfer

Die Dunkelzahl von sexueller Gewalt ist weit höher als angenommen. Opfer von Gewalt verschweigen die sexuellen Handlungen am längsten, weil diese am schmerzhaftesten sind. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, immer auch unter Beschuldigungen und Drohungen zu leiden hatten – und immer noch darunter leiden. Diese Schuldzuweisung bedeutet Täterschonung; hier muss sich als Erstes etwas ändern.

Wenn Expertisen in Auftrag gegeben werden, um nur Daten zu sammeln, um festzustellen, wo es zur sexuellen Gewalt kam, können zwar Statistiken erstellt und Schuldige genannt werden, aber es gibt keine Problemlösung. Gesetze sind hilfreich, doch sie haben bis heute nicht viel erreicht. Der Beweis dafür liegt in der großen und wachsenden Zahl jener, die trotz der Gesetze zu Tätern wurden.

Ergo: Wir müssen mit Präventionen dort ansetzen, wo der Imprint von Gewalt verursacht wird: in den meisten Fällen im Elternhaus, bei Ersatzeltern und in Heimen und im näheren Umfeld des Opfers. Dort liegt die Ursache, dass Gewalt in jeder Form existieren kann.

Warum aber schützen Eltern und andere ihre ihnen anvertrauten Kinder nicht? Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass solche Eltern, und vor allem die Mütter, selber als Kind Gewalterfahrungen gemacht haben. Sie mussten diese verdrängen, weil ihnen keine Hilfe und kein Verständnis angeboten wurde, und so konnte ihr Trauma unaufgelöst weiter existieren. In der Konsequenz verschließen sie die Augen oder sind hilflos und überfordert, wenn sich die Gewalt bei ihren Kindern wiederholt.

Präventive Maßnahmen

Will die Regierung Kinder tatsächlich schützen, müssen klare, zielführende Maßstäbe zur Reduzierung des Problems genannt werden. Dabei darf es keine Ausnahmen geben. So dürfen zum Beispiel Täter aus Ämtern, Kirche und Institutionen keinen Zugang mehr zu Kindern haben. Im Privatbereich muss dem Täter ebenfalls die Möglichkeit genommen werden, neue Opfer zu schaffen, das heißt: Isolation für immer. Die psychologischen Gutachten, die oftmals von einer Ungefährlichkeit der Täter ausgehen, erweisen sich zu häufig als falsch.

Es ist viel gewonnen, wenn sich ein Kind nach einem Gewaltakt meldet. Doch was wissen wir wirklich von den Opfern, die ihre sexuellen Misshandlungen seit Jahren verschweigen und mit sich tragen müssen? Sie wurden von denen, die sie schützen sollten, nicht wahrgenommen und haben deshalb weitere Gewalttaten erfahren. Ein Kind muss gehört und beschützt werden, damit es den Mut entwickeln kann, sich wenigstens verbal zu wehren.

Wir müssen die Symptome erkennen und therapeutisch behandeln, anstatt die Opfer auch noch zu verurteilen und zu bestrafen. Hier sind Kinderärzte, Erzieherinnen und alle Berufsgruppen besonders gefordert, die viel mit Kindern zu tun haben. Grundsätzlich aber muss sich insgesamt endlich das Wissen ausbreiten, dass ein Kind, das Tiere quält oder andere Kinder sexuell misshandelt, einen tiefliegenden Schmerz ausagiert – letztendlich nicht anders als der Sexualstraftäter. Genau hier zeigt sich die Gewalt, die später nicht mehr gestoppt werden kann.

Wenn aber ein misshandeltes Kind oder Jugendlicher erfolgreiche Trauma-Auflösung erhält, und hier muss die Therapie über eine reine kognitive Therapie oder über alleiniges Coaching auf jeden Fall hinausgehen. Wenn das Kind der oder die Jugendliche seinen b.z.w. ihren eigenen Schmerz endlich fühlen und dadurch auflösen darf, wird es später die Augen nicht verschließen oder seine eigenen gewaltsamen sexuellen Erfahrungen im erneuten Machtmissbrauch ausleben. Wenn Sie weitere Information zu Thema Trauma-Therapie benötigen, können wir Ihnen Forschungsergebnisse vorlegen.

Täter erkennen, wer sich als Opfer eignet. Opfer wiederum erkennen im Verhalten des Täters das alte, eingelernte Muster des Unterwerfens und wiederholen es zwangsläufig – unbewusst. Kein Opfer will erneut misshandelt werden, aber es hat verlernt, auf sich und seine Gefühle zu hören. Die Wiederholung der bekannten Situation ist unvermeidbar, weil die natürliche Abwehr manipuliert wurde. Das Opfer zeigt Symptome von Wehrlosigkeit, und der potentielle Täter reagiert.

Sexuelle Gewalt, wenn sie mehrere Male und über lange Zeit geschieht, zerstört das Gefühl von Selbstwert langsam aber sicher. Die Opfer beginnen die sexuelle Gewalt hinzunehmen, weil sie nichts daran ändern können, seien es sexuelle Misshandlungen durch Eltern und Verwandte, Lehrer, Priester oder andere, die mit Kindern beruflich zu tun haben. Es entsteht eine manipulierte Situation, in der das Kind lernt, nur die Bedürfnisse der Täter zu befriedigen. Für die meisten Kinder bedeutet dies, so zu überleben. Wir nennen es eine Mischung vom sog. Stockholm-Symptom und einer Parentifizierung des Kindes.

Mit Trauma-Auflösung kann die durch sexuelle Gewalt zerstörte Identität wieder hergestellt werden. Die vormals hohe Vulnerabilität, das Merkmal aller Opfer, ändert sich und wird durch Auflösung des Traumas zu natürlicher Selbstsicherheit.

Ob Kind oder Erwachsener – wer über seinen Schmerz sprechen und verteidigen darf, ihn fühlen darf, hat das Wichtigste wieder gewonnen: das Gefühl des Selbstwert, das durch die Gewalt regelrecht vereist wurde.

Wenn aber das Gefühl weiter unterdrückt wird oder nur kognitiv angesprochen wird, besteht die Gefahr, dass aus einem Opfer ein neuer Täter wird. Die Bedeutung des Fühlens in der Therapie ist neurowissenschaftlich belegt. Der Trauma-Schmerz ist in der rechten Gehirnhälfte (Gefühl) verankert und kann deshalb nicht mit Kognition, also der linken Gehirnhälfte (Logik – das darüber Sprechen), Heilung oder Auflösung finden. Infolgedessen sind Gesprächstherapien als Einstieg wichtig, aber für die Wiederherstellung der natürlichen Identität nicht ausreichend.

Auch fehlendes Oxytocin (wenn ein Baby nicht gestillt wird oder durch frühe Isolation / Hospitalismus) beim Neugeboren oder im Kleinkind kann der Grund für sexuelles Ausagieren, gerade bei Männern, sein – der erste Schritt zur Vergewaltigung. Und so setzt sich die Spirale von sexueller Gewalt fort, und das einstmals verletzbare Kind und Opfer wird zum verletzenden Täter.

Es reicht leider nicht aus, die Sexualstraftäter einzusperren, um sie dann ein paar Jahre später wieder freizulassen ohne ihr Trauma tatsächlich behandelt zu haben. (Es gibt leider auch Fälle, in denen aufgrund von psychischer Gewalt so schwerwiegende Gehirnveränderungen vorliegen, dass keine Trauma-Therapie mehr möglich ist.) Wollen wir potentielle Opfer tatsächlich schützen, brauchen wir die ehrliche Bereitschaft der Verantwortlichen, die Realität zu konfrontieren, daraus wirksame und endgültige Schlüsse zu ziehen.

In vielen Fällen von Gewalterfahrung bleiben nicht nur psychische Folgeschäden [1]. Es wird wissenschaftlich belegt, dass auch organische Schäden nachweisbar auf sexuelle Gewalt zurückzuführen sind. www.gjpsy.uni-goettingen.de/gjp-article-otte.pdf

Sehr geehrte Frau Dr. Bergmann, wir hoffen, unsere Ausführungen können zu einer Vertiefung der Thematik beitragen. Für weitere Informationen stehen wir gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,
EMaK Team

Sieglinde W. Alexander – Gründerin
E-mail: admin@emak.org

Sabine Becker – Lektorin
Therapeutin für Psychotherapie (HPG) in München

Sonja Djurovic – PR für Heimopfer
Mitglied des Runden Tisches Heimerziehung Feb. 2009 – Dez. 2010
E-Mail: s.djurovic@t-online.de

[1] Genveränderungen und Folgeschäden: www.nature.com

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